15 Veroneserinnen beantworten jährlich 7000 Briefe, die an “Julia – Verona – Italien” gerichtet sind. “Du bist doch tot! Wieso kannst Du mir also antworten?” fragte der 13-jährige Peter aus der norddeutschen Provinz. Denn Julia beantwortete zu seiner Verwunderung einen Brief von ihm, in dem er hilflos erklärte, dass ihm seine erste großen Liebe verwehrt geblieben sei. Die Sache mit der historischen Julia ist ja auch wirklich nicht einfach… Die Julias der Jetztzeit sind höchst lebendig und heißen Cristina, Carlotta, Giovanna, Manuela und Elena.

Die Veroneser Sekretärinnen von Julia wissen natürlich Bescheid. Alle haben „Romeo und Julia“ gelesen oder auf der Bühne gesehen und auch den Hollywood-Streifen mit Leonardo di Caprio als Romeo und Claire Danes als Julia.

Julia-Verona-Italien: Der Mythos antwortet“William Shakespeare war nie in Verona und hat unsere Stadt dennoch berühmt gemacht. Mit ‚Romeo und Julia‘ schrieb er die wohl größte Liebesgeschichte aller Zeiten, wenngleich er sie nicht einmal ersonnen hat: Luigi da Porto erfand schon 1524 die Figuren Romeo und Julia”, sagt Manuela Uber, die seit 1995 Briefe an Julia beantwortet. „Die Geschichte war so möglich, sie ist glaubhaft, jedoch nicht bewiesen. Romeo und besonders Julia wurden aber dadurch zum Mythos“, meint die 53-Jährige.

Sie ist eine der 15 Veroneserinnen, die ehrenamtlich jene 7.000 Anfragen an Shakespeares Julia beantworten, die pro Jahr eingehen.

Dazu kommen 10 helfende Botschafter in verschiedenen Ländern, darunter auch ein Romeo, der Martin heißt und in London wohnt. “Es geht um alles, von der ersten Liebe wie bei Peter, bis zur Scheidung”. Es schreiben meist junge Leute zwischen 15 und 25, aber auch Elf- und 83-Jährige .

Julia gibt seit vielen Jahren Rat

“Jeder Brief ist anders”, ergänzt Elena Marchi, 57, von Beruf Übersetzerin und viel mit nicht-italienischen Briefeschreibern beschäftigt. “Aber manchmal denke ich mir schon nach dem zweiten Satz, um was es gehen könnte. Das wird wohl die Routine sein. Ich beantworte ja schon seit 19 Jahren Briefe an Julia.”

Julia-Verona-Italien: Der Mythos antwortetSeit 1937 antwortet der Mythos. Zwei Jahre nach dem Bau des Balkons im Innenhof der Casa Giulietta, gingen erstmals Briefe an “Julia – Verona – Italien” ein. Ein Romeo namens Ettore Solimani beantwortete die Briefe in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg.

Den Balkon hatte Shakespeare ja nur erfunden, wie letztlich zwei Drittel der tragischen Geschichte: Romeos Montecchi-Familie gehörte zu den Anhängern der Kaiser-Partei und Julias Familie Cappelletti zu den Papst-Anhängern. Eine politische Konstellation, die eine Liebe zwischen Julia und Romeo nicht zuließ. Und der perfekte Stoff für Shakespeare …

Ein wenig kitschig wirkt auch Julias Balkon, wie man ihn heute in Verona sieht. Dabei war er im Ursprung ein Sarkophag, der erst 1935 angebracht wurde. Er sollte Julias Haus authentischer machen. Bis heute küssen sich darauf die Pärchen, schwören sich ewige Liebe.

„Das ist so romantisch! So romantisch wie das Briefe schreiben!“, sagt Carlotta Ghinato, mit 24 Jahren die jüngste der Julias, Studentin und verlobt. „Echte Briefe sind ernsthafter, intensiver, glaubwürdiger“.

Julia-Verona-Italien: Der Mythos antwortetDer längste Brief an Julia ging immerhin über 10 Seiten und erstaunlich, aber wahr: elektronische Post spielt nur eine Nebenrolle. Julia hat zwar eine E-Mail-Adresse, ist auf Facebook und Instagram vertreten, aber zu “80 Prozent kommen immer noch handgeschriebene Briefe an”. E-Mails seien meist schnoddrig, versichert Carlotta: “Bei einem Brief musst du dich hinsetzen, schreiben, ein Couvert frankieren und es dann auch noch zur Post bringen!”

Julia-Verona-Italien: Der Mythos antwortetDer Julia-Club

“1970 gründete mein Vater den Julia-Club, weil ihn der Mythos interessierte”, sagt Giovanna Tamassia, 56 Jahre alt, die Präsidentin des Clubs. “15 Jahre später fragte der Kulturreferent der Stadt, ob wir die unzähligen Julia-Briefe denn nicht wieder beantworten wollten wie einst Ettore.”

Die Julia-Briefe wurden zur Erfolgsstory. Die Stadt bezahlt das Porto – aber auch nicht mehr – und hat dafür einen der besten Marketinggags im Tourismus weltweit.

Auf 10.000 Euro Portogeld für 2020 wartet die Präsidentin aber immer noch. Und auch darauf, dass der Club endlich wieder in die Casa Giulietta ziehen darf, “denn dort gehören wir hin!”

Giovanna liebt die Geschichten aus aller Welt, “sie bereichern mich! Eine Frau lernt ja nie aus, gerade bei der Liebe …” Sie muss es wissen: Giovanna ist geschieden.

Die Wand hinter den fünf Julias, die heute in Julias Büro sind, ist komplett bestückt mit weißen Aktenordnern. Auf fünf mal zwei Metern sind fein säuberlich alle gut 200.000 Briefe abgeheftet, die seit 1985 gesammelt wurden.

Liebe ist das zentrale Thema

“Susan aus Schottland wollte wissen, ob romantische Liebe in einem kühlen Klima möglich sei”, erzählt Giovanna. “Und ein Italiener ist ins Kloster gegangen, weil er seine Liebe des Lebens nicht bekam”, erzählt Carlotta.

Manche schicken Haare der Angebeteten, damit etwas von ihr in Julias Verona sei, andere Zeichnungen von der großen Liebe. Eine Dame aus Vicenza schickte den Ehering ihres verstorbenen Mannes und bat, eine der Julias solle den Ring von nun an tragen. Die Präsidentin selbst nahm sich des Ringes an.

Julia-Verona-Italien: Der Mythos antwortet„90 Prozent der Briefeschreiber haben Liebesprobleme, zehn Prozent verleihen ihrem Glück Ausdruck“, sagt Cristina Spagnolo, 25 Jahre alt, Studentin, bildhübsch und die Julia im historischen Gewand, wenn die Stadt Verona bei offiziellen Anlässen ihre Julia präsentiert. Seit sechs Jahre schreibt sie Briefe in Julias Namen: „Ich fühle mich der Figur Julias verbunden. Ihre Geschichte ist ein Teil von mir.“

Grundsätzlich antworten die jungen Julias den jungen Briefeschreibern und die älteren Julias den älteren Briefeschreibern. Shakespeare-Zitate werden nur sehr selten verwendet und manche erwarten keine Antwort, sondern schreiben (ohne die eigene Adresse anzugeben), als sei es ein Tagebucheintrag. Manchmal kommen sogar ganze Tagebücher an, die bei Julia sicher verwahrt sein sollen.

“Wir geben keine direkten Ratschläge”, sagt Giovanna, “und kommen zum Beispiel Suizid-Gedanken in den Briefen vor, beraten wir uns und verweisen auf psychologische Hilfsangebote.”

Inzwischen geht es immer öfter um die digitale Gefühlswelt: “Ich liebe sie seit fünf Jahren, habe sie aber bislang nur auf dem Smartphone gesehen”, mailt ein 20-Jähriger. Aber noch schlimmer kann es werden, wenn die digitale Liebe auf einmal real wird und nichts mehr so ist wie auf dem Handy …

“Die Welt braucht die Liebe”, sagt Manuela. “Auch wenn sie im Tod mündet.” Am vermeintlichen Grab von Julia, etwas außerhalb des Stadtkerns, wurden die ersten Nachrichten an Julia gefunden. Und dort kann man heutzutage heiraten.

“Ich hoffe, dass auch die muslimische Pakistani ihre Liebe heiratet und nicht den Mann nehmen muss, den ihre Eltern für sie ausgesucht haben”, erzählt Manuela von einem aktuellen Brief.

Julia-Verona-Italien: Der Mythos antwortetIm Hof der Casa Giulietta ist die rechte Brust der Julia-Bronzestaue glatt poliert. Beinahe jeder Besucher grapschte sie ungeniert an. Denn wer das tut, dem wird die Liebe ewig hold bleiben. Sagt man. Wegen Corona wurde das Grapschen nun verboten und auch das Briefe schreiben an den Wänden der Toreinfahrt.

“Hoffentlich wird das bald wieder anders”, reklamiert Cristina. “Der Eingang sieht ohne Nachrichten, Botschaften und Fragen jetzt so kalt aus und passt ganz und gar nicht zu Julia…”

Julia ist zwar tot. Aber sie antwortet ja trotzdem …

Nabucco: Ein unvergesslicher Opernarbend in der Arena di VeronaVerona-Rundgänge auf Julias Spuren mit einer Julia: manuela.uber@tiscali.it
Julias E-Mail-Adresse: dearjuliet@julietclub.com

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Text und Fotos: Jochen Müssig (7) / Annemarie Heinrichsdobler (1)

 

 

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